Iveco Stralis Hi-Way 440S46 im Test
Im alltäglichen Verkehr auf der Autobahn muss das Euro-6-Flaggschiff von Iveco beweisen, wie praxistauglich es tatsächlich ist.
Mittwochmorgen, 6.15 Uhr. In den frühen Morgenstunden fällt der Startschuss für ein neues Format im Nutzfahrzeug-Test. 1.000-Meilen-Test – das bedeutet mit einem serienmäßigen Truck unterwegs im alltäglichen Transporteinsatz und frei von jeglichen Sparzwängen, wie sie streng normierte Testrunden üblicherweise mit sich bringen. Den Auftakt zum neuen Testformat markiert der Iveco Stralis Hi-Way 440S46. Mindestens 1.000 Meilen weit und zwei Tage und zwei Nächte lang dauert das Testprogramm. Wir sind unterwegs auf bekannten Routen, Stau und Lenkzeitpausen inbegriffen.
Stralis erreicht Euro 6 mittels SCR-Abgasreinigung
Unter der großen Hi-Way-Kabine des Stralis werkelt der 460 PS starke Cursor-11-Reihensechszylinder. Allein mit SCR-Abgasreinigung verwirklicht der Stralis die Euro-6-Abgasgrenzwerte. Genial einfach, sagen die Iveco-Konstrukteure. Kostet Unmengen von Adblue und wird nicht auf Dauer funktionieren, kontert die Konkurrenz. Wir werden sehen, jedoch sollen exakte Verbrauchswerte nicht kommuniziert werden, weil es ein Chrom-verziertes Kundenfahrzeug ohne spezielle Aufbereitung ist – also nicht ganz ideal spezifiziert, eben ein alltäglicher Lkw. Eine Vergleichbarkeit zu den herkömmlichen lastauto omnibus-Tests ist jedenfalls nicht gegeben. Hier kommt es uns auf andere Aspekte an.
Der Harnstofftank ist ebenso wie der 770 Liter große Dieseltank randvoll. Alles ist bereit für den Start zum 1.000-Meilen-Test. Zuvor erklärt noch Iveco-Vertriebsmann Alexander Roas die wichtigsten Extras an Bord des Iveco. Im voluminösen Kühlschrank unter der dreiteiligen Liege unten lassen sich jede Menge Wasserflaschen und Proviant bunkern. Daneben sitzt – nicht gerade optimal positioniert – eine kompakte Pad-Kaffeemaschine von Waeco, die über einen 220-Volt-Wandler mit Energie versorgt wird.
Aufpreisfrei: Multimediagerät Iveconnect
Überaus variantenreich fällt das Programm von Iveconnect aus. Das Multimediagerät sitzt mittig auf dem Armaturenträger direkt im Blick- und Bedienfeld des Fahrers. Es hat für seine aufpreisfreie Präsenz im Cockpit jede Menge zu bieten. Eine funktionale Truck-Navigation, deren Sprecher stark lispelt, aber ansonsten ein feines Gespür für den richtigen Weg hat. Wahlweise gibt es eine Anbindung an Datentelemetrie und – als Motivations-Leckerli für den Stralis-Lenker – ein Fahrstil-Überwachungsmodul, mit dessen Hilfe sich Erkenntnisse über Fahrweise, Verbrauch und Einsatz von Bremsen und Retarder ablesen lassen.
Sobald die Einweisung abgeschlossen ist, dreht sich die Kurbelwelle das erste Mal, und zwar flüsterleise. Der Stralis säuselt fast so leise wie ein Reisebus, als wir das Ulmer Iveco-Werk verlassen – 69 db(A) am Fahrerohr. Die erste Station der Tour führt nach Burtenbach. Dort, im Kögel-Werk, steht die Ladung: ein auf 40 Tonnen Gesamtgewicht ausgeladener Curtainsider.
Acht chromumrandete Fernscheinwerfer
Während der Hofhund den Dreiachs-Auflieger zum Übergabebereich zieht, empfängt uns der Kögel-Kundenbetreuer im Kundencenter mit Kaffee und belegten Semmeln. Auf dem Hof kommentiert Kögel-Überführungsfahrer Alex unsere chromumrandete Batterie von acht Fernscheinwerfern auf Dach und Frontbügel mahnend: "Nach Österreich würde ich damit nicht fahren!" Haben wir auch nicht vor. Unser Tagesziel zur gesamtdeutschen Premierenrunde soll Hildesheim sein, der Stützpunkt der Iveco-Gebrauchtfahrzeug-Zentrale.
Im strömenden Regen starten wir zur Fahrt quer durch Bayern, Hessen bis ins südliche Niedersachsen. Während der Fahrer den nicht vorhandenen Regensensor manuell simuliert, wird der Wunsch nach einem Kaffee laut. Trotz tiefen Griffs in die elektrischen Eingeweide von Sicherungskasten und Kaffeemaschine, lässt sich diese nicht zur Arbeit überreden. Die Fehlersuche endet am saftlosen Spannungswandler, wodurch nur noch die einzelne Zwölf-Volt-Steckdose die stromhungrigen Verbraucher wie Mobiltelefon, Zusatznavigation und Tablet-PC abwechselnd versorgen kann.
Dafür bietet das Fahrertrainingsprogramm pädagogisch wertvolle Unterhaltung. Auch alte Hasen lassen sich damit noch vom Ehrgeiz um den nächsten Prozentpunkt Sparsamkeit erhitzen. Schade nur, dass die ambitioniert erfahrenen Ergebnisse mit einem Schlüsseldreh im Nirwana verschwinden. Besser wäre es, wenn die zusammen mit dem durchzugsfreudigen Sechszylinder erarbeiteten Resultate gespeichert würden.
Verbrauch liegt unter 30 Liter
Unter 30 Liter genehmigt sich der Stralis gerade mal – trotz des aerodynamisch fragwürdigen Zierrats. Auf dem nur leicht hügeligen Streckenprofil hat der Stralis mit seinem breit von unter 1.000/min bis an die Grenze des Hauptfahrbereichs bei 1.500/min gestreckten Drehmoment-Bestwert leichtes Spiel. Die lange Hinterachsübersetzung lässt den Reihenmotor bei 85 km/h mit knapp 1.200 Touren nur vor sich hin säuseln. Der Einkehrschwung zur Kaffeepause auf dem Autohof Wörnitz zeigt, warum ein Hochsicherheitsparkplatz sinnvoll ist.
Zurück am Volant kann man sich ebenfalls nicht beschweren. Auch wenn der Verstellbereich für den Fahrersitz etwas länger ausfallen dürfte, sitzt man bequem hinterm Steuer und verspürt Spaß am Fahren. Die agile und direkte Lenkung verwandelt Richtungswechsel von Arbeit in Vergnügen und gibt sich absolut linientreu. Trotzdem ist es gelungen, die harten Schläge von Fahrbahnschäden draußen zu lassen.
Der Tempomat lässt sich ebenso exakt einstellen, nur leider nicht vom Multifunktions-Lenkrad aus – ein Manko das zur nächsten Modellpflege behoben werden sollte. Was auf der Autobahn aber wirklich fehlt, ist ein Getriebefreilauf, mit dem der drehfreudige Sechszylinder wohl noch sparsamer über die Runden käme.
Kasseler Berge sind ein Klacks
Die Bewährungsprobe, ob elf Liter echte 460 PS wert sind, legt der Stralis im abendlichen Aufstieg zu den Kasseler Bergen ab. Mit solider Motorleistung und hell pfeifendem Turbolader zieht der kompakte Reihenmotor im Mittelfeld der 40-Tonner die langen Steigungen hoch. Auf der Suche nach dem Schrecken dieser berüchtigten Autobahnetappe wird man heute nicht mehr fündig.
Trotzdem könnte der Stralis flinker sein, wenn er eine etwas kürzere Hinterachsübersetzung verbaut hätte. So bleibt der ansonsten feinfühlig regelnde Schaltautomat an langen Anstiegen jenes Quäntchen zulange im zwölften Gang, um das ganze Leistungspotenzial in flotte Fahrt umzusetzen. Und nur hier erscheint es sinnvoll, per Hebeldruck den Gang manuell zu wechseln. In allen anderen Fahrsituationen glänzt das automatisierte Getriebe mit weiter verkürzten Schaltzeiten, die durchaus den Vergleich zum Klassenprimus I-Shift von Volvo aufnehmen können.
Genug Platz für Soloschläfer
Das letzte Schaltmanöver des Tages ist ein schneller Wechsel zwischen Rückwärts- und erstem Gang, um den Zug auf dem Autohof Bockenem zur Nachtruhe zu parkieren. Wenn das Lenkrad hochgestellt wird und die obere, einteilige Schlafliege herunterklappt, beginnt die Wohnphase im Stralis. Den seltenen Zweimannbesatzungen wird es sicher zu eng mit Gepäck und Kleiderwechsel. Als Soloschläfer reicht der Platz im komplett erneuerten Stralis-Großraum-Fahrerhaus allemal.
Die dreiteiligen Staufächer im Dachbereich schlucken jede Menge Gepäck und Zubehör, die Bewegungsfreiheit über der oberen Liege fällt ausreichend aus. Hier im Oberstübchen kann man über eine zentrale Steuereinheit Wecker, Fensterheber, Rollo oder Musik bequem regeln. Die Matratzenstärke erlaubt auch Schwergewichten komfortable Nachtruhe.
Zeit über das Image von Iveco nachzudenken: Wie schafft es dieser Lkw, den scheinbar ewig währenden Ruf als Klapperkiste und Pizzablech, der von manchen "Experten" am Stammtisch gegrölt wird, abzulegen? Technisch ist der Stralis absolut auf der Höhe der Zeit und muss sich nicht vor den Mitstreitern in der Fernverkehrsklasse verstecken. Dem Fahrer wird ein moderner Arbeitsplatz geboten, der sogar heimelig wirkt. Vielleicht verkauft sich der Iveco zu nüchtern, um geliebt zu werden? Am Steuer des Hi-Way angelangt, braucht man nicht mehr überzeugt zu werden, aber der Weg dahin ist manchmal noch schwierig.
Brandserie verhindert Besuch im Gebrauchtfahrzeugzentrum
Aus unserem Besuch im Gebrauchtfahrzeugzentrum wird leider nichts. Eine mysteriöse Brandserie auf dem Firmengelände bindet Mannschaft und Aufmerksamkeit zur Aufklärung. Freie Fahrt herrscht dagegen am nächsten Morgen mit Kurs Osten in Richtung Leipzig. Die nächsten hundert Kilometer Richtung Süden über die makellosen Autobahnen in Ostdeutschland sind eine Alternative zu den überfüllten klassischen Nord-Süd-Routen. Faktisch ist die Route über Leipzig, Jena und Erfurt etwas länger, dafür stressfrei und reibungslos zu fahren. Stralis und Fahrermannschaft sind jetzt nach zwei Tagen zusammengewachsen. So viel Zeit braucht es, um ein Fahrzeug in der Tiefe wirklich kennenzulernen. Man weiß, dass die Bremse beim Anfahren einen Wimpernschlag zu lange hängt, freut sich immer wieder über die schnelle Schaltarbeit und wünscht sich einmal mehr den Getriebefreilauf, der an langen Gefällen so manchen Liter Diesel sparen könnte. In der Summe harmonieren Getriebeabstufung und Gesamtübersetzung aber durchaus.
Stralis punktet mit Fahrkomfort
Den Weg zurück ins Ulmer Werk meistert der Stralis ohne besondere Vorkommnisse. Zeit um Bilanz zu ziehen: Der Stralis punktet mit sehr gutem Federungs- und Fahrkomfort, arbeitet so laufruhig wie kein zweiter schwerer Lkw und verdient das Label "uneingeschränkt langstreckentauglich". Abgesehen von der etwas umständlichen Iveconnect-Bedienung ist die Arbeit am Stralis-Steuer intuitiv und simpel. Der Elf-Liter-Motor gerät nicht zum Nachteil. Der Verbrauch hat sich für diesen durch und durch serienmäßigen Zug bei praxisähnlicher Leistungsabfrage mit 34 Litern pro 100 Kilometer eingependelt. Auch der Adblue-Tank ist noch nicht leer. Was am Stralis stört, sind Kleinigkeiten: der Tempomat irgendwo am Lenkstock, die etwas zu lange Achse und das schlechte Abblendlicht.
Gegen Mitternacht rollt der Stralis-Zug den letzten Meter der 1.000-Meilen-Premiere vor das Ulmer Haupttor. Magirus leuchtet es hier mittlerweile, der sachlich-seelenlose Iveco-Schriftzug ist verschwunden. Wobei sich die Frage nach dem richtigen Markenzeichen scheinbar wie von selbst beantwortet. Mit dem Ulmer Münster am Kühlergrill hätte der Euro-6-Newcomer wohl auch die letzten Kritiker auf seiner Seite.