Brexit: Angst um den Binnenmarkt und die Lage in Calais
Sorgen um die Zukunft der EU und den Binnenmarkt bestimmen die Reaktionen der Transportbranche am ersten Tag nach dem Votum der Briten für einen Austritt aus der Union. Auch die Situation in Calais könnte sich ändern, wenn die Franzosen sich nicht mehr für die Sicherung der britischen Außengrenze zuständig fühlen wollen.
Die Bundesregierung müsse eine Strategie für das gemeinsame Europa der Zukunft entwickeln, fordert der Präsident des Deutschen Speditions- und Logistikverbands (DSLV), Mathias Krage. Es dürfe keine weiteren Austritte geben und der Binnenmarkt müsse auch in einer verkleinerten Union erhalten bleiben. „Die international arbeitende, deutsche Speditions- und Logistikbranche profitiert ebenso wie ihre Kunden vom freien Personen-, Kapital- und Warenverkehr in der EU, die zudem ein alternativloser Garant für Frieden und Wohlstand in Europa ist. Deshalb muss das Erfolgsmodell Europäische Union auch in dieser schwierigen Zeit unbedingt erhalten und stabilisiert werden“, sagte er.
Über die wirtschaftlichen Folgen des Brexits für die Branche könne man zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Die ersten heftigen Reaktionen an den Börsen zeigten aber, dass die befürchteten wirtschaftlichen Nachteile für alle Seiten eintreten könnten, so Krage. „Der Handel mit Großbritannien wird auch nach einem Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt nicht einfach abbrechen und Speditionen werden Lösungen zur Überwindung neuer administrativer Hürden entwickeln.“ Wie sich das Preisgefüge und die Nachfrage nach logistischen Dienstleistungen entwickeln würden, stehe heute noch in den Sternen. „Es wird sicher nicht einfacher und höhere Logistikkosten sind nicht auszuschließen.“
Die Transportbranche sei erst einmal nicht direkt vom Brexit betroffen, sagte Dr. Adolf Zobel vom Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) im Gespräch mit trans aktuell: „Heute ändert sich überhaupt nichts.“ Es gebe für den Austritt und seine Bedingungen ja eine Übergangszeit von zwei Jahren, in der zunächst einmal die EU und Großbritannien eine Vielzahl von Problemen zu lösen hätten. Allerdings habe der Sinkflug des britischen Pfundes Auswirkungen auf die Unternehmen, die im deutsch-britischen Verkehr unterwegs seien. Über die Position Großbritanniens nach den zwei Jahren könne man jetzt nur spekulieren.
Auch für den Vorsitzenden des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament, den Grünen-Politiker Michael Cramer, sind die Auswirkungen für den Verkehrssektor zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Im Reiseverkehr erwarte er keine dramatischen Konsequenzen, der Güterverkehr hingegen könne deutlich leiden, sagte Cramer trans aktuell. „Die Folgen werden davon abhängen, welches neue Verhältnis die EU mit Großbritannien aushandeln wird.“ Der Austritt Großbritanniens sei insgesamt sehr bedauerlich, denn er sei ein wirtschaftliches Eigentor und schwäche auch das Ansehen Europas.
Es sei klar, dass der Brexit gravierende Folgen auf den gesamten Mobilitätssektor haben werde, betonte der Präsidiumsvorsitzende des Deutschen Verkehrsforums (DVF), Ulrich Nußbaum. „Aus Sicht der Mobilitätsbranche in Deutschland ist jetzt vor allen Dingen wichtig, besonnen zu handeln und möglichst schnell Planungssicherheit für die Unternehmen zu schaffen.“ Für die Europäische Union biete der Schock des Brexits aber auch eine Chance für einen Neustart und für tiefgreifende Reformen zum Wohl der Bürger und der Wirtschaft. „Mehr Transparenz und Regulierung mit Augenmaß sind das Gebot der Stunde“, sagte der DVF-Präsident.
Frankreich könnte sich mit dem Brexit eines großen Problems im Transportsektor entledigen. Wenn bisher von Großbritannien und Frankreich in einem Atemzug die Rede war, gab es nur ein Thema: Calais. Mit dem Brexit könnte auch das bilaterale Abkommen zur Grenzsicherung zur Disposition stehen.
Die Vereinbarungen von Touquet waren 2003 unterzeichnet worden und hatten nicht zuletzt die Kontrollen im Güterverkehr unter Beteiligung englischer Beamter auf die französische Seite des Kanals vorgeschoben. Frankreich wurde damit auch die Aufgabe zuteil, sich um die Registrierung und die Regulierung des Flüchtlingsstroms zu kümmern. Wer dann in England nicht erwünscht war, wurde nach Calais zurückgeschickt.
Französische Politiker wie der Präsident der betroffenen Region Hauts-de-France, Xavier Bertrand, fordern jetzt auch hier Neuverhandlungen. Man solle die Übergangszeit von zwei Jahren nutzen, um den Schutz der Grenze zurück zu verlagern, meint der französische Europaabgeordnete Dominique Riquet. Bereits bevor das Ergebnis der Abstimmung bekannt war, hatte Wirtschaftsminister Emmanuel Macron gewarnt: „Frankreich wird die Migranten nicht mehr in Calais zurückhalten.“