Antriebstechnik Mercedes SLT: Massiver Auftritt

15. Juli 2014
Kräftige Motoren, 16 Gänge und eine spezielle Kupplung dazwischen kennzeichnen die neuen Schwerlastzugmaschinen von Mercedes.
Die Zahl scheint willkürlich gewählt, hat aber eine gewichtige Bedeutung in der Welt des Schwertransports. Sie lautet 250 Tonnen. Gemeint damit ist das Zuggewicht für seriennahe Schwerlastzugmaschinen. 250 Tonnen müssen es sein, um in diesem speziellen Transportsegment eine Rolle spielen zu dürfen. Dies gilt selbst in Deutschland, wo eine einzelne Zugmaschine maximal 180 Tonnen auf öffentlichen Straßen ziehen darf. Doch egal ob 180 oder 250 Tonnen – in beiden Fällen geht es um Gewichte, die mindestens das 4,5-Fache eines Standardlastzugs betragen. Der hat in den meisten Fällen 400 bis 500 PS, zwölf Gänge und eine angetriebene Achse. Anfahren kann ein solcher Lastzug in 18 Prozent Steigung so gerade noch und scheitert schon deutlich früher, wenn der Untergrund auch nur mit ein paar Schneeflocken bedeckt ist.
Mercedes SLT: Synergieeffekte durch Seriennähe
Die Idee hinter den seriennahen Schwerlastzugmaschinen ist, Komponenten aus der Serienproduktion zu nutzen – also jene Motoren, Getriebe, Chassis und Achsen, die auch im 40-Tonner ihren Dienst antreten. Tatsächlich definiert sich eine Schwerlastzugmaschine hauptsächlich über ihre seriennahe, aber teilweise ganz spezielle Antriebstechnik. Das fängt bei drehmomentstarken Motoren und entsprechenden Getrieben an, setzt sich fort über spezielle Kupplungen und endet bei robusten Achsantrieben. Die Achslasten? 2 x 13 oder 2 x 16 Tonnen hinten, vorne acht oder neun Tonnen und generell acht für die Vorlaufachse. Macht beim Vierachser bis zu 41 Tonnen technisches Gesamtgewicht, die bei solchen Fahrzeugen durchaus üblich sind, auf deutschen Straßen allerdings Theorie bleiben. 35 Tonnen sind erlaubt. Rund 14 Tonnen wiegt der vollgetankte (900 Liter) 8x4-Vierachser Mercedes Actros SLT.
Beim SLT-Motor setzt Mercedes konsequent auf den mächtigsten Gusskameraden im Programm – auf den 15,6 Liter großen Reihensechszylinder OM473, der von Detroit Diesel auch als DD16 vermarktet wird und in den Trucks von Western Star und Freightliner zum Einsatz kommt. Dieser für die USA typische Langhuber (171 Millimeter bei 139 Millimeter Bohrung) leistet als OM473 zwischen 517 und 625 PS (380 und 460 kW) und schafft in der stärksten Ausführung 3.000 Nm Drehmoment. Seine Nennleistung erreicht der OM473 schon bei 1.650/min und damit deutlich früher als der zuvor im SLT eingesetzte Achtzylinder OM502. Die jetzt fülligere Leistungskurve passt bestens zu hohen Zuggewichten. Aufgebaut ist er ähnlich wie die kleineren Sechszylinder (12,8 Liter Hubraum) in Actros und Arocs, verfügt also über einen einteiligen Zylinderkopf mit zwei obenliegenden Nockenwellen, einen stabilen Motorblock und die X-Pulse genannte Common-Rail-Einspritzung. Deren markantes Kennzeichen ist die sogenannte Druckverstärkung – maximal 900 bar entstehen im gemeinsamen Rail, auf bis zu 2.100 bar verstärken die sechs Injektoren den Einspritzdruck. Komplettiert wird das Ganze von einem Turbocompound-System. Ein zweiter Turbolader, dem Waste-Gate-Lader nachgeordnet, überträgt weitere Abgasenergie via Welle und Hydrokupplung auf den Rädertrieb des Motors. Das ergibt etwa 50 "kostenlose" Zusatz-PS, die sich – weil sie überwiegend bei hoher Last anfallen – bestens für Schwertransporte nutzen lassen.
Kultivierter Motor mit 3.000 Newtonmetern

Der große Sechszylinder läuft erstaunlich kultiviert und verträgt sich gut mit den 16 Gängen des hauseigenen Getriebes G280. Dass dieses Getriebe, um die 3.000 Nm zu meistern, mit zwei ins Schnelle übersetzten Gängen arbeitet, ist beim Schwertransport ein zu verschmerzender Nachteil, den die fein gestuften 16 Gänge wieder wettmachen. Tatsächlich passen 16 Gänge besser in die Welt des Schwertransports als deren zwölf. Grundsätzlich ausgerüstet sind die SLT mit der Powershift-Automatik. Zwei Fahrprogramme sind serienmäßig, entweder die Kombination von Standard und Power oder Standard und Heavy. Standard empfiehlt sich für Leerfahrten oder ganz geringe Zuggewichte. Power verlegt die Schaltpunkte in etwas höhere Drehzahlbereiche, Heavy in die hohen. Bei den ersten Fahrten im Versuchsgelände in Wörth haben Motor und Getriebe leichtes Spiel – gut 60 Tonnen wiegt die Kombination aus 8x4-Zugmaschine, Doll-Auflieger und beladenem Vierachser als Ballast. Beim Beschleunigen und in der Ebene arbeitet Powershift mit großen Gangsprüngen, auf Steilstücken geht es halbgangweise nach oben und in großen Sprüngen nach unten. Die Schaltungen selbst gelingen zügig und dennoch komfortabel.

Hydrokupplung wurde verbessert

Zwischen Motor und Getriebe hat eine (noch) recht außergewöhnliche Hydrokupplung ihren Platz. Geboren als Viab (Voith) hört sie bei Mercedes auf den Namen Turbo-Retarder-Kupplung. Sie besteht aus einer Hydrokupplung mit integrierter Retarderfunktion.

Vor drei Jahren war lastauto omnibus erstmals damit unterwegs – mit 180 Tonnen auf einem ehemaligen Militärgelände. Seitdem hat sich einiges getan – vermutlich auch, weil die ersten Praxiserfahrungen bei den Kunden und Fahrern nicht ganz zufriedenstellend ausfielen. Die Turbo-Retarder-Kupplung ist eine Alternative zur bekannten Wandlerschaltkupplung (WSK von ZF) und funktioniert doch ganz anders. Gemeinsamer Nenner ist die hydrodynamische Kraftübertragung. Die WSK aber besitzt einen stetig gefüllten Wandler und einen gemeinsamen Ölhaushalt mit dem Getriebe. Die Turbo-Retarder-Kupplung wird nur bei Bedarf gefüllt – ansonsten arbeitet die normale Trockenkupplung. Zudem muss sie ohne Wandlerverstärkung auskommen, was bei den heutigen, starken Motoren kein Nachteil mehr ist.

Trockenkupplung beim Anfahren geöffnet

Sowohl die Menge als auch die Geschwindigkeit der Füllung sind geregelt und weitgehend von der Gaspedalstellung abhängig. Beim Anfahren ist die vor der Turbo-Retarder-Kupplung angebrachte Trockenkupplung geöffnet, das Motordrehmoment wird über eine Hohlwelle auf das Pumpenrad der Hydrokupplung übertragen. Schon kurz nach dem Anfahren entleert sich das System, die Trockenkupplung übernimmt.

Das Zusammenspiel von Hydro- und Trockenkupplung gelingt recht feinfühlig. Der Übergang ist kaum zu merken und allenfalls an der grünen Kontrollleuchte ersichtlich, die den Einsatz der Hydrokupplung anzeigt. Arbeitet sie, dann geht das äußerst elegant und ganz unspektakulär vonstatten. Sowohl beim Beschleunigen in der Ebene, beim Anfahren in extremen Steigungen (18 Prozent) oder eben beim sogenannten Abseilen, wenn der Schwerlastzug – nur vom Gaspedal gesteuert – im ersten Vorwärtsgang langsam, kontrolliert und zentimetergenau rückwärts bergab rollt.

Kriechfunktion in zwei Stufen möglich

Die von der WSK bekannte Kriechfunktion – also das langsame Rangieren mit eingelegtem Gang bei Leerlaufdrehzahl und geschlossener Kupplung – bringt die Turbo-Retarder-Kupplung nicht von Hause aus mit. Mittlerweile allerdings gibt es im SLT einen Schalter, der diese Kriechfunktion via Teilbefüllung in zwei Stufen möglich macht. Und zwar ohne Betätigung des Gaspedals, das die Turbo-Retarder-Kupplung normalerweise zum Befüllen braucht. Bei der größeren Teilbefüllung wird so viel Motormoment übertragen, dass es schon eines beherzten Tritts auf das Bremspedal braucht, um die Fuhre anzuhalten. Genau diese Funktion hatten viele altgediente WSK-Fahrer bei der Turbo-Retarder-Kupplung vermisst.

Der integrierte Primär-Retarder leistet 350 kW. Hinzu kommen die 475 kW der Dekompressions-Motorbremse (Jake Brake). Weil aber das Getriebe so viel Kraft auf Dauer nicht verträgt, hat Mercedes die kombinierte Bremsleistung auf 720 kW, also umgerechnet fast 1.000 PS, begrenzt.

Ausgeklügeltes Kühlsystem im Mercedes SLT

Für ein dauerhaftes Agieren in beiden Fällen sorgt ein ausgeklügeltes Kühlsystem im Kühlturm hinter dem Fahrerhaus, das für die Kühlung von Motor und Turbo-Retarder-Kupplung einen gemeinsamen Kreislauf nutzt. So kann der Motor bei Schleichfahrt bergauf die Kühlreserven der Turbo-Retarder-Kupplung einsetzen, die Kupplung wiederum greift beispielsweise bei langen Rangiertätigkeiten auf die Kühlreserven des Motors zurück.

Getrennt in separate Kreise sind hingegen die Hydraulikanlagen für Zugmaschine und Auflieger – hauptsächlich, um den Motorwagenkreislauf vor eventuellen Verunreinigungen aus dem Auflieger zu schützen. Für die unterschiedlichsten Auflieger sind vorerst zwei Hydrauliksysteme mit 150 Liter Volumen lieferbar: mit 250 bar und einem Volumenstrom von 30 l/s sowie mit 280 bar und 20 l/s.

Motor OM473 als Markenzeichen

Markante Kennzeichen der neuen SLT sind sicher die wuchtigen und starken Motoren der Baureihe OM473 und das recht seltene 16-Gang-Getriebe. Mehr aber noch die Turbo-Retarder-Kupplung, die – von der fehlenden Drehmomentverstärkung abgesehen – all das kann, was eine WSK bisher geleistet hat. Sie baut kompakter und leichter, hat weniger Hitzeprobleme, verträgt mehr Drehmoment (bis 3.000 Nm) und macht das Fahren mit hohen Gewichten einfacher. Dass der Actros SLT 4163 dank 720 kW Dauerbremsleistung schneller bergab als bergauf marschiert, gereicht ihm aber keineswegs zum Nachteil. Ganz das Gegenteil ist der Fall – Schwerlasttransporteure stehen auf Bremsleistung. Zumal sie pro PS billiger kommt als Motorleistung.